Die russische Führung hat selbst weitreichende Zugeständnisse von US-Präsident Donald Trump für einen Waffenstillstand in der Ukraine abgelehnt. Dabei gingen Trumps Vorschläge über die großzügigsten Appeasement-Angebote der westlichen Welt hinaus. Die Gespräche und Verhandlungen haben nichts verändert, was eine zentrale Frage aufwirft: Warum führt Russland überhaupt Verhandlungen?
Die naheliegende Antwort lautet: Aus russischer Sicht gibt es derzeit auf dem Schlachtfeld keinen Anlass zu verhandeln. Die militärischen Operationen verlaufen planmäßig und ohne schwerwiegende Rückschläge. Entscheidungen auf strategischer Ebene zeigen klar, dass Moskau entschlossen ist, sein Vorgehen fortzusetzen.
Es gibt auch weniger offensichtliche Gründe. Russlands Handeln steht in engem Zusammenhang mit den Interessen und Absprachen seiner Verbündeten. Interne Zeitpläne und strategische Vereinbarungen deuten darauf hin, dass ein Verhandlungsfrieden – insbesondere im Ukrainekrieg – nicht vorgesehen ist. Stattdessen verfolgt Russland langfristige Ziele, die weit über den lokalen Krieg hinausreichen.
Ein aktueller Vorfall verdeutlicht diese Haltung: Am 10. September drangen 23 russische Drohnen in den polnischen Luftraum ein, bevor sie von NATO-Kampfflugzeugen abgefangen wurden. Dieser Zwischenfall macht deutlich, dass Russland seine Kriegsführung konsequent auf mehreren Ebenen fortsetzt – von direkten Angriffen über Aufklärungsmissionen bis hin zu Sabotageakten gegen kritische Infrastruktur in NATO-Staaten. Der Anschlag auf die Berliner Stromversorgung und kritische Infrastruktur am 9. September muss in diesem Zusammenhang mitgedacht werden.
Diese Aktivitäten stehen vermutlich im Zusammenhang mit der Großübung ZAPAD 2025, die vom 12. bis 16. September in unmittelbarer Nähe der NATO-Grenzen stattfand. Rund 13.000 Soldaten trainierten dabei Szenarien wie Grenzverteidigung, Rückeroberung verlorener Gebiete, elektronische Kriegsführung sowie den Einsatz nuklearfähiger Waffensysteme. Besonders alarmierend: In der Region Kaliningrad wurde ein Iskander-Raketensystem mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern auf einer Autobahn stationiert – 400 Kilometer von Deutschland entfernt. Moskau und Minsk betonen zwar den „defensiven“ Charakter der Übung, doch die Erfahrung der vergangenen zwei Jahrzehnte zeigt ein anderes Muster: Nahezu jeder größere russische Krieg – ob in Tschetschenien, Georgien oder der Ukraine – begann im Zusammenhang mit einer militärischen Übung.
Vor diesem Hintergrund stuft Polen die jüngsten Ereignisse als erhebliche Bedrohung seiner nationalen Sicherheit ein. Mit der Einberufung von Konsultationen nach Artikel 4 des NATO-Vertrages fordert Warschau die Allianz auf, die aktuelle Lage gemeinsam zu analysieren und Maßnahmen zur Stärkung der Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit im östlichen Bündnisgebiet zu erörtern. Das Eindringen in den NATO-Luftraum und die bislang eher zurückhaltende Reaktion der Allianz deuten darauf hin, dass das Abschreckungspotential der NATO in den letzten Jahren spürbar geschwächt wurde. Russland nutzt das politische Hin und Her von Donald Trump, um seinen neu gewonnenen Handlungsspielraum auszuloten. Es testet fortlaufend die Reaktionen der europäischen NATO-Staaten und analysiert deren Schwächen – insbesondere dort, wo die USA nicht unmittelbar eingreifen.
Die Analysen und Ableitungen müssen die Zusammenhänge jenseits der tagesaktuellen Einzelereignisse identifizieren und global betrachten. Für die NATO bedeutet dies, dass eine Neujustierung der strategischen Gewichte notwendig ist – mit stärkerem europäischem Fokus und erheblichen Investitionen in die kollektive Verteidigung, die über militärische Ausrüstung und Abschreckung hinaus explizit gesamtgesellschaftlich gedacht werden muss.

